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Auf dem Weg zum europäischen Atomausstieg:
Belgiens große Chance

von Anika Limbach

Der Artikel erschien Juli/August 2017 in der Bonner Umweltzeitung

 

Was aus deutscher Sicht völlig unverständlich ist: In Belgien teilt man kaum die Angst vor einem Super-GAU. Dass der Weiterbetrieb der beiden besonders riskanten Rissereaktoren Tihange 2 und Doel 3 in Deutschland als Skandal empfunden wird, kümmert ganz offensichtlich weder den Atomkonzern Engi-Elecrabel, noch die Atomaufsicht FANC, noch die belgische Regierung. Laut einer offiziellen Statistik befürworten 50 Prozent der belgischen Bevölkerung die Nutzung der Atomenergie. Doch auch Menschen, die ihr skeptisch gegenüberstehen, glauben, man könne eben nicht so schnell auf Atomstrom verzichten. Sie mögen die Stilllegung der beiden Bröckelreaktoren noch für realistisch halten, nicht jedoch ein zügiges Abschalten aller sieben Atommeiler (3 in Tihange und 4 in Doel). Allgemein befürchtet man Versorgungslücken und steigende Strompreise.

Quelle: unitypix/shutterstock

 

Ein Faktencheck ist also mehr als überfällig. Wie schnell oder wie langsam kann und muss sich der belgische Atomausstieg vollziehen?

Mit dieser Fragestellung befasst sich eine Studie, die vom NRW-Umweltministerium in Auftrag gegeben und Ende 2016 veröffentlicht wurde.

 

Studienergebnisse

Lässt man das Fazit der Studie unhinterfragt, ist es für Atomkraftgegner durchaus ernüchternd: Unter dem Aspekt einer sicheren Stromversorgung könne man Tihange 2 und Doel 3 erst im Jahr 2020 außer Betrieb nehmen, allerdings nur unter bestimmten Voraussetzungen. Eine davon sei die Fertigstellung der Übertragungsleitung ALEGrO zwischen Deutschland und Belgien. Dass die vorübergehende Stilllegung der beiden Meiler kein einziges Mal in den 21 Monaten zu Versorgungsengpässen führte, ist nach Ansicht der Autoren ein Glücksfall. Bei extremeren Bedingungen wie beispielsweise einem besonders harten Winter verbunden mit unerwarteten Ausfällen hätte man mit Engpässen rechnen müssen. Ein vollständiger Atomausstieg ist laut Studie frühestens 2025 ohne Probleme umsetzbar, 2020 sei er nur unter großen Anstrengungen möglich – mit Hilfe erheblicher "Gegenmaßnahmen".

 

Sofortausstieg rein technisch möglich

Ein genauerer Blick auf die Studie, ihre Prämissen und die Fakten, die ihr zugrunde liegen, verändert jedoch das Gesamtbild.
Eines sollte man wissen: Rein technisch wäre ein sofortiger und kompletter Atomausstieg in Belgien möglich. Das würden auch die Autoren der Studie nicht bestreiten.
Im Sommer ist die Stromnachfrage sowieso geringer. Die Höchstlasten betragen etwa die Hälfte der winterlichen Lastspitzen, sodass momentan Atomstrom eigentlich überflüssig ist. Nach Abschalten aller Reaktoren könnten die Monate bis zum Herbst genutzt werden, um das moderne Gaskraftwerke "Claus C", das auf niederländischer Seite nah der Grenze zu Belgien liegt, wieder in Betrieb zu nehmen. Der zu einem GuD-Kraftwerk ausgebaute Block C hat die enorme Kapazität von 1,3 GW. Aus wirtschaftlichen Gründen steht das Kraftwerk seit Jahren still. Gleichzeitig könnte man große Batteriespeicher und Gasturbinen, abgestimmt auf den Netzbedarf, an speziellen Standorten errichten. Auch ohne weitere Übertragungsnetze ins Ausland könnte man damit sogar im Winter den Atomstrom vollständig und flächendeckend ersetzen.
Um solche Maßnahmen in Gang zu bringen, sind unterstützende wirtschaftliche und politische Rahmenbedingungen notwendig, die zur Zeit aber nicht ansatzweise bestehen. Deshalb haben die Autoren nur Faktoren in ihre Berechnungen einbezogen, die in der jetzigen Lage realistisch erscheinen.

 

Zuverlässigkeit der AKW überschätzt

Doch wieviel Spielraum gibt es auch in diesem enger gesteckten Rahmen, und wieviel ist davon in der Studie berücksichtigt worden?
Wie bereits erwähnt kommen die Autoren zu dem Schluss, dass die Versorgungssicherheit in Extremfällen nicht gewährleistet sei, nähme man Tihange 2 und Doel 3 sofort vom Netz. Verantwortlich dafür sei vor allem der unzureichende Netzausbau, insbesondere das fehlende deutsch-belgische Interkonnekt. Dadurch seien die benötigten Stromimporte aus Deutschland nur indirekt über die Niederlande und nur in begrenztem Maße möglich. Ganz von der Hand zu weisen ist das nicht. Stellt man sich jedoch die Frage, wie sicher die tatsächliche Stromversorgung zum jetzigen Zeitpunkt ist, kommt man zu aufschlussreichen Ergebnissen. Interessant ist vor allem, dass in allen Modellierungen die Verfügbarkeit der Atommeiler mit einem erstaunlich hohen Wert angesetzt wird. (Da Revisionen in der Regel nicht im Winter erfolgen, liegt die Vermutung nah, dass diese in der Berechnung keine Rolle spielen). Wie in derartigen Studien üblich, wird die Rate ungeplanter Ausfälle bei AKW mit 5,5 Prozent angenommen. Diesen standardmäßig verwendeten Schätzwert müsste man bereits allgemein hinterfragen. Schaut man sich dann noch die reale Ausfallrate belgischer Atommeiler an, ist diese Prozentzahl noch weniger nachvollziehbar. Bei insgesamt 7 Reaktorblöcken in Belgien muss man de facto davon ausgehen, dass jederzeit, auch in Momenten hoher Stromnachfrage, zwei Meiler gleichzeitig – störfallbedingt – ausfallen können. Angesichts der zahlreichen, in den letzten Jahren sogar vermehrt auftretenden Pannen in belgischen Meilern kommt diese Schätzung der Realität wesentlich näher. Rechnet man statt dessen, wie in der Studie, mit den genannten 5,5 Prozent, wären es 325 MW, die nicht zur Verfügung stünden. Das entspricht nicht einmal der Kapazität des kleinsten Reaktors (Doel 1 oder 2).

 

Schneller oder langsamer Atomausstieg – was ist "realistischer"?

Kurz gesagt: Sogar mit 7 Meilern ist die "Versorgungssicherheit" in Belgien nicht hundertprozentig und jederzeit gegeben. Fallen beispielsweise im Winter Tihange 2 und Doel 3 gleichzeitig aus – was wie gesagt nicht so unwahrscheinlich ist – sinkt die verfügbare Leistung der Atomkraftwerke von 5,9 GW auf 3,9 GW. Nimmt man diese Situation als Referenzpunkt, dann ergibt sich ein Bild, wonach auf die Rissereaktoren sofort verzichtet werden kann. Bei verbleibenden 5 Reaktoren kann man nach Abzug der (realistischen) Ausfallrate zwar nur mit einer verfügbarer Leistung von 2,4 GW rechnen, die Lücke ließe sich aber relativ schnell ausfüllen, wenn man das Gaskraftwerk "Claus C" in eine strategische Reserve überführen und das Lastmanagement geringfügig ausbauen würde. (Letzteres funktioniert durch die Option, zu Zeiten hoher Verbrauchsspitzen die Stromlieferungen auszusetzen. Mit bestimmten Firmen kann dies vertraglich vereinbart werden). Man könnte sogar zusätzlich die Uralt-Reaktoren Doel 1 und 2 stilllegen, würde man das volle Potential des Lastmanagents ausschöpfen (geschätzte 826 MW). Dadurch würden man übrigens auch die Stromnetze entlasten.
Wie sähe nun die Lage aus, nähme man alle Atommeiler sofort vom Netz? Sie wäre, bei Umsetzung der beschriebenen Maßnahmen, in etwa vergleichbar mit der Situation von 2014/2015, als Tihange 2 und Doel 3 außer Betrieb waren. Wären in dieser Phase Versorgungsengpässen aufgetreten – was nicht geschah – wären zuerst Reservekraftwerke zum Einsatz gekommen. Erst als letztes Notfallmittel hätte man den Strom in einzelnen Netzgebieten und nur für kurze Zeit abschalten müssen. In Frankreich wurde dieser sogenannte Lastabwurf schon mehrmals praktiziert. Dramatische Auswirkungen hatte das nicht.

 

Viele ungenutzte Möglichkeiten

Darüber hinaus gibt es in Belgien einfache Möglichkeiten, die Versorgungssicherheit zu erhöhen. Ein riesiges Potential liegt im Einsparen von Strom. Neulich erregte ein Foto aus dem Weltraum Aufmerksamkeit, weil auf dem europäitschen Kontinent bei Nacht nur eine einzige größere Lichtfläche zu sehen war, nämlich Belgien. Mit einem Verzicht auf überflüssige Abendbeleuchtungen würde man nicht nur generell Strom sparen, sondern auch die Lastspitzen reduzieren. Weiterhin ließe sich neben Block C des Gaskraftwerks "Claus" ebenfalls der ältere Block A mit einer Leistung von über 600 MW reaktivieren. Staatliche Anreize wären sicher hilfreich, um dieses wie auch andere Gaskraftwerke wieder rentabel zu machen. Doch ein kompletter Atomausstieg könnte wegen vermutlich steigender Strompreise einen ähnlichen Effekt haben, zumindest vorübergehend. Je mehr Erneuerbare Energien und moderne Speichersysteme neuen Spielraum bekämen, desto mehr würde sich der Strommarkt entspannen, wodurch die Börsenpreise auch wieder sinken könnten. Besonders vielversprechend – sogar unabhängig von staatlicher Förderung – ist der Beitrag größerer Photovoltaikanlagen in Kombination mit Speichern zum Eigenstromverbrauch, was sich vor allem für Krankenhäuser, Firmen und Hotels anbietet. Die Produktionsspitze des Solarstroms kann dabei von der Mittagszeit in die Abendstunden verlagert und so mit den Verbrauchsspitzen synchronisiert werden.

 

Belgiens Chance

Für Belgien gilt die gleiche Faustregel, wie für alle Industrieländer mit Atomkraft: Ein Umstieg vom alten, zentral gesteuerten auf das neue, dezentrale Energiesystem ist mit Kosten verbunden, und diese fallen umso geringer aus je schneller sich die Wende vollzieht. Je früher ein Land außerdem damit beginnt, desto geringer sind die Schäden und Folgekosten der Atomkraft, die zum allergrößten Teil von Staat und Gesellschaft getragen werden.
In Deutschland kann man zur Zeit beobachten, was passiert, wenn der Umstieg verschleppt wird:
Der sog. Atomausstieg wurde zur Hälfte zwar schnell vorzogen, zur anderen Hälfte aber auf die lange Bank geschoben. Überflüssiger Atom- und Kohlestrom verstopft die Netze und verdrängt auch moderne Gaskraftwerke, die wegen ihrer Flexibilität übergangsweise gebraucht werden. Potentiale zur Energieeffizienz und -einsparung bleiben ungenutzt. Windräder werden immer häufiger abgeregelt, der Zubau Erneuerbarer Energien wurde ausgebremst, und es fehlt ein längst überfälliges, flächendeckendes Speicherkonzept. All das steigert am Ende die volkswirtschaftlichen Kosten genauso wie die irreparablen Schäden.
Darüber hinaus blieben die Uranfabriken in Gronau und Lingen trotz „Atomausstieg“ unangetastet, weshalb die Gefahr grenznaher, maroder Atommeiler durch deutsche Brennstoffexporte auch noch befeuert wird – nicht nur in Tihange und Doel, auch im französischen Cattenom und Fessenheim sowie im AKW Borssele (NL). Das Risiko, das man durch Abschalten deutscher Reaktoren zu vermindern glaubte, droht nun in verschärfter Form ein paar Kilometer westlich – mit Hilfe deutscher Brennstäbe.

Belgien könnte diese deutschen Fehler vermeiden, es könnte die Chance ergreifen und innerhalb kürzester Zeit eine energiepolitische Kehrtwende vollziehen. Damit würde es gleichzeitig eine neue Chance für Europa eröffnen.