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Internationaler Kongress der IPPNW zum 20. Jahrestag der Tschernobyl-Katastrophe traf sich in Bad Godesberg

Eröffnung des IPPNW-Kongresses im Bonner Bundeshaus70.000 Todesopfer, 162.000 km2 verseuchtes Gebiet mit 9 Mio. betroffenen Menschen, 350.000 Umsiedlungen, Verdoppelung der Krebsraten: Die Folgen der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl sind in bloßen Zahlen nicht zu fassen.

Mit dem internationalen Kongress „Zeitbombe Atomenergie“ bot die atomkritische Ärzteorganisation IPPNW - unterstützt u.a. von der Anti-Atom-Gruppe Bonn - am ersten April-Wochenende in der Godesberger Stadthalle zweierlei: 20 Jahre nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl wurde in angemessener Form auf das noch heute andauernde Leid der Opfer aufmerksam gemacht. Gleichzeitig mischte sich die Veranstaltung mit bis zu 500 Teilnehmern offensiv ein in die aktuelle Debatte um weitere Laufzeitverlängerungen für Atomkraftwerke und den drohenden Nuklearkonflikt um den Iran.

 

Gudrun Pausewang im alten Bundestag
Gudrun Pausewang, Autorin von "Die Wolke", bei der Kongresseröffnung im alten Bundestag auf dem Sessel des Bundeskanzlers. Dort hätte sie schon viel eher Platz nehmen sollen.

Auch ohne die Schwerpunkte des Programms wurde durch die Tagespolitik klar, dass die so genannte „zivile“ nicht von der militärischen Nutzung der Atomkraft zu trennen ist. Tschernobyl liegt nicht weit entfernt von Hiroshima. Einfach und eindrucksvoll formulierte es die Medizinerin Angelina Nyagu bei der Eröffnungsfeier im Bundeshaus in eine Frage: Wie kann denn eine Energie, die als Mittel der Massenvernichtung in die Weltgeschichte getreten ist, jemals als „friedliche“ Energie betrachtet werden? Sinn und Zweck der Atomenergie war es, zu zerstören. Konsequenterweise bezeichnet Nyagu, die jahrelang Strahlenschutz-Programme in den betroffenen Staaten geleitet hat, die Katastrophe von Tschernobyl als Krieg. Angesichts der Opferzahlen, Verwüstungen und sozialen Zerrüttungen spricht sie treffend von einer andauernden Gewalt, die in ihren Auswirkungen nur mit einer militärischen Auseinandersetzung zu vergleichen ist: Atomenergie wird hier zum offenen Krieg gegen die Bevölkerung.

Der mit hochkarätigen Referenten aus der ganzen Welt bestückte Kongress verharrte nicht in der bloßen Anklage. Zunächst zeigten die vielen kleinen Initiativen der Tschernobyl-Hilfe, wie die Opfer vor Ort unterstützt werden können. Organisationen wie „Heimstatt Tschernobyl“, die betroffene Dörfer bei Umsiedlungen mit Neubauten und einer Energieversorung durch Erneuerbare Energien unterstützen, schaffen es viel zu selten in die breite öffentliche Aufmerksamkeit.

Ein Schwerpunkt der dreitägigen Veranstaltung war die Vernetzung der Anti-Atom-Bewegung. Hier wurden ganz konkret Erfahrungen ausgetauscht, Strategien debattiert und neue Kampagnen entworfen. Insbesondere die großen Stromkonzerne als AKW-Betreiber sollen durch Verbrauchermacht stärker unter Druck gesetzt werden. Der Wechsel hin zu unabhängigen Anbietern von Strom aus Erneuerbaren Energien müsse noch besser als einfacher persönlicher Atomausstieg dargestellt werden.

Messerscharf seziert wurden die gesellschaftlichen Blockaden Erneuerbarer Energien dann im Vortrag von Hermann Scheer, Präsident von EUROSOLAR und Träger des Alternativen Nobelpreises. Mit den Erneuerbaren könnte die Umweltbewegung in die Offensive gehen: Allein bei Beibehaltung des jetzigen Ausbautempos ersetzen Erneuerbare Energien schon in wenigen Jahren mühelos den Anteil von Atomstrom im deutschen Netz. Längst haben sich die Erneuerbaren technisch und ökonomisch bewährt - doch rennt die Gesellschaft weiterhin sehenden Auges mit den Energiekonzernen in die Sackgasse der fossilen und nuklearen Ressourcen.

Konstantin Wecker am Flügel
Im Kulturprogramm begeisterte Konstantin Wecker am Flügel. Anschließend konnte man in Ruhe noch bei einem Kölsch mit dem Münchener diskutieren.
Wer dagegen die unendlichen Potenziale der Erneuerbaren Energien nutzen will, muss Scheer zufolge die Strukturen der Energieversorgung auf den Kopf stellen: Statt in aufwändigen langen Energieketten endliche Rohstoffe über den halben Erdball zu transportieren, um sie dann völlig ineffizient zu verbrennen, wird die Erneuerbare Energie nun einfach dort genutzt, wo sie gebraucht wird. Scheer zufolge ist jeder Mensch potenziell sein eigener Energieversorger. Viele kleine Anlagen in Bürgerhand nutzen radikal dezentral Sonne, Wind, Wasser, Biomasse und Erdwärme.

Dieser Strukturwandel reicht weit über den Stopp der atomaren Bedrohung hinaus: Am Ende steht die befreiende Perspektive einer Gesellschaft, die selbstbestimmt und herrschaftsfrei über ihre Energieversorgung entscheiden kann, eben „energie-autonom“ ist.

Int. IPPNW-Kongress
Kongressdokumentation:
www.tschernobylkongress.de

Zum Weiterlesen:
Hermann Scheer: Energieautonomie. Eine neue Politik für Erneuerbare Energien. Kunstmann, München 2005.