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Wie BonnerInnen die gemeinsamen Castor-Proteste im Wendland erlebten

Der Atommüll aus La Hague strahlte in diesem Jahr besonders stark. JEDER der elf Castoren transportierte mehr als 1000 Kilometer lang eine Substanz, deren Radioaktivität dem entspricht, was beim Super-GAU von Tschernobyl freigesetztt wurde. Das allein ist schon Grund genug, aufzubegehren. Doch bei den Protesten im Wendland ging es niemals "nur" um den Castortransport, erst recht nicht in diesem Jahr. Er war und ist Symbol für alles, was die Menschen rund um das Thema Atomkraft so wütend macht: Der unverfrorene Atomdeal zwischen Regierung und Konzernen, das Duchpeitschen des sog. Energiekonzeptes im Bundestag, der Schwarzbau im Salzstock Gorleben und Merkels Absicht, ohne Rücksicht ein Endlager durchzudrücken, dessen Probleme das Asse-Desaster weit in den Schatten stellen würden.
Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass sich so viele Menschen aus ganz Deutschland zur großen Auftaktdemo auf den Weg machen. Auch wir vom Bonner Bündnis für den Atomausstieg sind dabei. Verteilt auf ein paar PKWs und den Sonderbus sind wir in Kleingruppen angereist, einige schon am Vortag, andere am Samstag Morgen. Der Shuttle-Bus vom Camp in Gedelitz bewegt sich stockend eine schmale, dicht beparkte Straße entlang, bis er uns etwa einen Kilometer vom Kundgebungsort entfernt hinausläßt. Dieser, ein Maisstoppelfeld, liegt mitten in der Wendländischen Idylle. Kein Dorfplatz in einer der netten Ortschaften ringsum hätte so viel Platz für diese Anzahl von Demonstranten geboten. Die Zufahrtswege allerdings sind für den Anlass zu eng. Etwa zehntausend Menschen, so lese ich später, sollen im Verkehrschoas stecken geblieben sein. Der Großteil jedoch hat es zur Kundgebung geschafft, eine bunte Mischung vieler unterschiedlicher Menschen aller Altersklassen. Die Stimmung ist gut, die Reden klingen entschlossen, manche auch kämpferisch. Der Tenor ist deutlich: Ziel ist ein schneller Atomausstieg, der klar über den alten rot-grünen Konsens hinausgeht. Währenddessen hat sich der blaue Fleck am Himmel weiter vergrößert und lässt die Sonne hindurch. Irgendwie ist das Wetter doch solidarisch mit uns – trotz schlechter Vorhersagen.
Die Luft bleibt klar und kündigt eine kalte Nacht an. Hier und da liegt noch Graureif auf dem großen Zeltplatz von X-tausendmal quer, als wir sonntags kurz nach 10 Uhr eine viertel Stunde Zeit haben, um zusammenzupacken: Schlafsack, Isomatte und Stohsack. Dann brechen wir auf zu etwa 1000 Menschen, es geht von der Straße über einen Feldweg und schließlich, das längste Stückm, durch den Wald. Erst kurz vor dem Ziel teilen wir uns in fünf Gruppen (Finger) auf, um in einer möglichst breiten Front auf die Polizei zu treffen. Es wäre nicht nötig gewesen, wie sich herausstellt, denn die Polizeipräsenz ist minimal. Wir gelangen ungehindert auf die Straße zwischen Gorleben und dem Zwischenlager. Beinah schade, dass wir nicht anwenden können, was wir im Trainung gelernt haben: wie man gewaltfrei Polizeiketten durchfließt. Aber die größte Herausforderung liegt noch vor uns: Das tage- und nächtelange Ausharren bis zum Schluss.
Die Kälte kriecht mir in die Zehen, doch kann ich sie immer wieder vertreiben. Ich hole mir einen warmen Tee, schlendere umher, ergattere einen Platz vor einer der fünf Feuertonnen oder tanze beim Musikwagen zu Technorythmen. Wir werden hervorragend versorgt, mit weiteren Strohsäcken und veganem Essen. Und, was wir nicht unbedingt erwartet hatten, es entsteht kaum Langeweile. Viele interessante Gespräche ergeben sich, zwischendurch verbreitet eine Sambagruppe eine fast ausgelassene Stimmung. Dann wieder, bei den Treffen in der Bezugsgruppe diskutieren wir ernsthaft und hören die neusten Infos. Die meisten aufregenden Nachrichten jedoch werden uns durchgesagt, über Mikrofon und Lautsprecher. Die Erfolge anderer Protestaktionen lassen uns besonders jubeln, so z.B. die Aushöhlung des Schienenbettes auf 150 Metern durch die Schotterer, die Trekkerblockaden der Bauern und die zu Tausenden angewachsene, friedliche Sitzblockade bei Harlingen auf den Schienen, zumal auch einige Bonner aus unserer Gruppe dort sitzen. Dann eine Neuigkeit, die uns noch mehr Auftrieb gibt: Die Polizei hat beschlossen, jene Blockade heute nicht mehr zu räumen, was aufgrund der Senke wohl besonders aufwendig ist. Sie will statt dessen in Verhandlungen treten. Ein unerwarteter Erfolg. Doch haben sie, die auf den Schienen sitzen, genug Decken und Schlafsäcke dabei? Ich wünsche es ihnen, denn auch diese Nacht wird wieder eisig kalt. Hier, auf unserem bequemen Gruppen-Stohlager kann uns dies wenig anhaben. Wir schlafen erstaunlich gut. Am Morgen erfahren wir, dass unsere MitstreiterInnen bei Harlingen weggetragen wurden, was immerhin mehrere Stunden dauerte. Später am Tag, noch während die Castoren am Verladebahnhof in Dannenberg in einer aufwendigen Prozedur vom Zug auf Lastwagen verfrachtet werden, überraschen uns die aufmunternden Nachrichten von der effektiven Greenpeace-Aktion, der Pyramide in Gorleben und der Herde von Schafen, die ebenfalls die Straße blockiert. Außerdem verhindern Bauern auf Zufahrswegen den Nachschub für die Polizei.
Wir stellen uns auf eine weitere Nacht im Freien ein. Inzwischen sind wir auf ca. 4000 Menschen angewachsen. Die Räumung unserer Sitzblockade könnte anstehen, doch sicher ist es nicht. Am Abend kommt die erste von drei notwendigen, sehr amtlich klingenden Aufforderungen, die Versammlung aufzulösen. Während der Nacht erfolgen weitere Durchsagen der Polizei. Ob sie tatsächlich bald beginnen wird, uns wegzutragen, ist schwer einzuschätzen. Die Stimme aus dem Lautsprecher von X-tausendmal quer versucht, uns zu beruhigen. Ich folge dem Rat und bleibe im Schlafsack liegen, so wie alle auf unserem Gruppen-Lager, doch schlafen kann ich nicht.
Dann, um 3:25 Uhr ist es soweit. Die Polizei beginnt im Licht ihrer Megascheinwerfer, zügig aber gesittet, die ersten Demonstanten von der Straße zu tragen. Wir packen zusammen, zunehmend aufgeregt. Die Atmospäre ist geprägt von aufflammenden Sprechchören, Gesängen und von ernsthaftem, beinah feierlichem Warten auf den Moment, an dem unser Protest am meisten zum Ausdruck kommt, in der Weigerung nämlich, freiwillig dem Castor den Weg zu räumen. Für uns als Gruppe zieht er sich noch knapp zwei Stunden hin. Dann kommen auch wir an die Reihe. Ein junger Polizist geht vor mir in die Hocke, damit er mir auf Augenhöhe ins Gesicht schauen kann, bevor er freundlich fragt, ob ich freiwillig aufstehen möchte. Ich verneine und werde von vier Händen ein paar Meter weit getragen, so als wäre ich misamt meinem Rucksack ein Fliegengewicht.
Es ist vollbracht. Der Castor wird zwar kurze Zeit später über diese Straße rollen, aber wir haben alles getan, was wir konnten, um das Unvermeidliche zu verzögern. Noch nie, so hören wir später, wurde der Transport so lange aufgehalten. Und noch nie fanden die Wendland-Proteste – die im Übrigen fast durchgängig gewaltfrei blieben – einen so großen positiven Widerhall.
Anika Limbach
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